Allein im Alter

Hilde öffnete gemächlich die Augen und streckte sich ausgiebig. Das Alter steckte ihr in den Knochen, sodass sie jeden Morgen etwas brauchte, bis die Gelenke und Muskeln wieder in Schwung kamen. Auch ihre Arthrose machte ihr heute wieder zu schaffen.

Doch Hilde hatte schon viel schlimmeres überstanden und so ließ sie sich von den Alterswehwehchen nicht großartig beeindrucken. Es ging eben alles etwas langsamer als früher. Aber für Hilde war das okay.

Mit stacksigen Schritten ging sie zu ihrem geliebten Laufrad, in dem sie jeden Morgen nach dem Aufstehen ihre Runden drehte. Freilich waren es nicht viele und von schnell konnte auch keine Rede sein, aber immerhin lief sie. Und auch im Alter muss man sich schließlich so gut wie möglich fit halten.

Als die Tür zu dem Zimmer auf ging, in dem ihr Käfig stand, lief Hilde so schnell es ging zu der Gittertür. Sie freute sich immer sehr, wenn sich ihr Mensch zu ihr setzte und mit ihr sprach. Meistens konnte sie dann auch eine Leckerei abstauben. Auch heute hatte ihr Mensch wieder ein Stück Walnuss für sie dabei. Freudig nahm Hilde die Nuss an und blieb genüsslich kauend vor der offenen Käfigtür sitzen, während ihr Besitzer ihr von seinem Tag erzählte. Als sie fertig gegessen hatte, begann ihr Mensch sie zu kraulen. Freudig schloss Hilde die Augen und genoss die liebevolle Berührung.

Doch diese Berührung ließ die alte Dame auch wehmütig und traurig werden. Sie dachte an ihre verstorbene Freundin Margarete. Diese hatte vor vielen Monaten die Reise über die Regenbogenbrücke angetreten.

Seitdem war Hilde ganz alleine in ihrem schönen, riesengroßen Käfig.

Seitdem gab es Zuneigung nur noch von ihrem Menschen.

Seitdem musste sie ihre Tage alleine verbringen, ihr Nest alleine bauen und alleine darin schlafen. Alleine frühstücken, snacken, mittagessen und abendessen.

Alleine.

Traurig öffnete Hilde die Augen, sah ihren Mensch an und lief dann langsam zurück in ihr kaltes Nest.

Ganz tief in sich drinnen wünschte sich Hilde nichts sehnlicher, als Margarete folgen zu dürfen. Denn dann wäre sie nicht mehr einsam.

Ihr Mensch, den sie so sehr liebte, sagte ihr kurz nach Margaretes Tod, dass es sich nicht lohnen würde eine neue Freundin für sie zu finden. Und dass er sich nicht sicher war, ob sie eine Vergesellschaftung überstehen würde. Und dass sie doch selbst auch schon so alt war…

Doch sie war doch erst knappe 7 Jahre alt! Hilde wusste, dass sie trotz ihrer Wehwehchen noch viel Zeit hatte. Doch so ganz alleine hatte sie keine Lust mehr. Sie war des einsamen Lebens überdrüssig.

Als ihr Mensch am nächsten Tag zu ihr an den Käfig trat, blieb Hilde in ihren Nest liegen. Sie sah die Nuss, die er ihr hin hielt. Doch sie hatte keinen Appetit. Auch ihre Morgenrunde im Laufrad hatte sie heute ausgelassen.

Hilde sah, wie ihr Mensch sorgenvoll auf sie hinab blickte. Er fuhr ihr mit dem Finger über das Fell. „Ich weiß, wie du dich fühlen musst, meine Süße. Ich weiß“, sagte er.

——

Glücklicherweise wurde Hildes Mensch darauf aufmerksam gemacht, dass seine Degu-Dame sich so zurück zog, weil ihr die Einsamkeit so sehr zusetzte. Also machte sich ihr Mensch auf die Suche nach einer neuen Partnerin. Und tatsächlich fand er mit Karla ein 8-jähriges Mädel, das schon ein paar Tage später ans Trenngitter ziehen durfte.

Und als Hildes Mensch am Tag darauf wieder an den Käfig trat, sah er Hilde im Laufrad laufen. Sie holte sich von ihm ihre Nuss ab, futterte sie gemütlich, ließ sich kurz kraulen und lief dann wieder zu Karla ans Trenngitter, die sie bereits freudig zwitschernd begrüßte.

Wenige Zeit später wurde das Trenngitter entfernt und die beiden alten Damen kuschelten sich direkt zusammen in Hildes Nest.

Auch wenn Hilde bereits ein stolzes Alter von 7 Jahren erreicht hat, muss das nicht heißen, dass sie nicht mehr viel Zeit hat. Viele Degus werden 8, 9 oder sogar 10 Jahre alt, bevor sie ihre letzte Reise antreten. In Hildes Fall würde das bedeuten, dass sie vielleicht sogar noch 3 Jahre ganz alleine in ihrem großen Käfig sitzen muss.

Gerade alte Tiere lassen sich in der Regel leichter vergesellschaften. Zu diesem Thema gibt es auch ein Infoblatt auf unserer Webseite: Vergesellschaftung älterer Degus

Hildes Geschichte ist übrigens frei erfunden. Doch ihr Schicksal steht stellvertretend für viele Degus, die nach dem Tod eines Partnertieres nicht so viel Glück hatten wie unsere Hilde und ihren Lebensabend alleine verbringen müssen.

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Dieser Krimi ist auch als PDF verfügbar: Allein im Alter